Patientenverfügung und Sterbehilfe



Über zehn Jahre ist es her, dass das 3. Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts (Patientenverfügungsgesetz) in Kraft getreten ist. Wer die jahre- und jahrzehntelange Diskussion um Patientenwille, Autonomie, Patientenverfügung und Sterbehilfe verfolgt hat, konnte schnell den Blick für die rechtliche Beurteilung verlieren. Dass bei dem Thema die verschiedenen Professionen unterschiedliche Blickwinkel eröffneten, war zwar sehr spannend. Aber neben der ethischen, religiösen, gesellschaftspolitischen und ökonomischen Dimension ist immer auch die juristische Bewertung zu beachten. Wer sich hier im Dschungel der Argumente verirrt und fehltritt, muss mit strafrechtlichen, haftungsrechtlichen und berufsrechtlichen Konsequenzen rechnen. Und das meist unter enormer medialer Beachtung.

 

Deshalb wollen wir uns mit den juristischen „Rahmenbedingungen“ beschäftigen, die rechtswissenschaftlich nicht allzu anspruchsvoll sind, sondern schon mit Grundkenntnissen des Zivil- und Strafrechts erfasst und erklärt werden können. Am einfachsten ist wohl der Einstieg über das Vertragsrecht. Hier reden wir über den Patienten (der alt und verständig genug ist, dass er für alle seine Entscheidungen die Verantwortung tragen kann) und sein Verhältnis zum Arzt (der ihm Gutes tun will). Das ist die Normalfallkonstellation. Sie ist Grundlage der weiteren Ausführungen. Die angeblichen Situationen: „die Patienten sind zu wenig informiert, die Angehörigen potentielle Erbschleicher, die Ärzte nur an Behandlungsgebühren interessiert und die Pfleger emotional überfordert“ dürfen nicht die Diskussionen beherrschen.

 

Also betrachten wir das Verhältnis von Patient und Arzt: Sie sind vertraglich verbunden durch einen Dienstvertrag. Der Patient ist der Dienstherr und der Arzt der Dienstverpflichtete. Wer von beiden bestimmt wohl den Inhalt der Dienstleistung, also Art und Umfang der Behandlung? Natürlich der Dienstherr, also der Patient. Kann er das auch schriftlich machen? Selbstverständlich. Gelten schriftliche Anweisungen nur in der Sterbephase? Natürlich nicht. Können die Anweisungen durch Zeitablauf unwirksam werden? Nein. Müssen die Anweisungen objektiv nachvollziehbar, also vernünftig sein? Gegenfrage: Was ist vernünftig?

Sie ahnen schon längst, wie einfach das Ergebnis der vertragsrechtlichen Betrachtung ist: Der Wille des Patienten zählt! Und das ohne jede Einschränkung und ohne ausschweifende Berufung auf Würde und Autonomie. Alle Versuche, den Patientenwillen zu relativieren, können nur scheitern.

 

Deliktsrechtlich müssen wir prüfen, ob bei einer medizinischen Behandlung eine Körperverletzung oder ein Tötungsdelikt vorliegen kann. Damit kommen wir also zum Strafrecht:

Vor über 115 Jahren, nämlich am 31.05.1894, hat das Reichsgericht entschieden, dass der Arzt eine strafbare Körperverletzung begeht, wenn er ohne Einwilligung eines Patienten einen Heileingriff vornimmt. Also macht sich jeder Arzt strafbar, der den Patienten gegen dessen Willen behandelt. Muss der Wille des Patienten schriftlich fixiert sein? Wohl nicht. Gilt sein Wille nur in der Sterbephase, ist sein Wille zeitlich begrenzt, muss seine Entscheidung vernünftig sein? Auch nicht! Ein Beispiel: Wenn der Zeuge Jehovas eine Bluttransfusion aus religiösen Gründen ablehnt, dann ist jede Zuwiderhandlung eine rechtswidrige Körperverletzung.

 

Sie sehen auch hier, wie einfach die Beurteilung aus strafrechtlicher Perspektive ist, sofern der Wille des Patienten bekannt ist. Aber wie sieht es aus, wenn der Wille des Patienten nicht ermittelt werden kann? Dann darf der Arzt die Hände nicht in den Schoß legen, sondern muss eine mutmaßliche Einwilligung prüfen, die als Rechtfertigungsgrund anerkannt ist. Mutmaßliche Einwilligung heißt aber nicht, dass man dem Patienten unterstellen darf, was ein Dritter vernünftigerweise entschieden hätte. Vielmehr muss gemutmaßt werden, ob denn der Patient wohl eingewilligt hätte, wenn er hätte einwilligen können. Bei entsprechenden Indizien muss man dann auch unvernünftige Entscheidungen unterstellen. Zum Beispiel: Wenn ich weiß, dass der Patient Zeuge Jehovas ist und auch weiß, dass die Zeugen Jehovas sich „von fremdem Blut fernhalten“ sollen, dann kann ich nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass der Patient mit einer lebensrettenden Bluttransfusion einverstanden ist.

Die mutmaßliche Einwilligung ist deshalb häufig schwieriger zu beurteilen, als der geäußerte Patientenwille. Darum ist die schriftliche Patientenerklärung für den Arzt eine große Hilfe und nicht lästige Beschränkung.

 

Wenn ohne Einwilligung oder ohne mutmaßliche Einwilligung behandelt wurde, also eine rechtswidrige Körperverletzung oder Tötung begangen wurde, ist noch die Schuldfrage zu klären, also die Frage, ob vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt wurde. Dabei spielen Irrtumsfragen eine große Rolle. Der Arzt kann allen möglichen Irrtümern erliegen, weil er glaubte, eine Patientenverfügung gelte nur in der Sterbephase, weil er dachte, eine Patientenverfügung müsse notariell beurkundet sein, weil er gelernt hatte, im Notfall alles medizinisch Mögliche tun zu müssen, usw. Wie diese vielen möglichen Irrtümer einzuordnen sind, kann in aller Kürze nicht dargestellt werden. Hier verweisen wir auf den Aufsatz „Alte und neue Probleme mit Patientenverfügungen“ von Dr. Sebastian Silberg unter www.humboldt-forum-recht.de. Eines ist aber allen Irrtümern gemeinsam: Sie können die Strafbarkeit nur beeinflussen, wenn sie für den Arzt unvermeidbar waren. Und was die Frage der Vermeidbarkeit von Irrtümern angeht, so ist Vorsicht geboten: Fast alles ist vermeidbar, also fast nichts unvermeidbar!

 

Im Ergebnis zählt also der Wille des Patienten. Aber was darf ein Patient alles wollen? Fast alles, denken wir einmal daran, was im Bereich der Schönheitschirurgie so alles passiert. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich! Es gibt natürlich auch Grenzen (die z.B. beim Wunschkaiserschnitt schon fast erreicht sind, wenn nämlich befürchtet werden muss, dass das noch ungeborene Kind Spätfolgen erleiden könnte). Das wirft die nächste Frage auf: Was muss der Arzt alles tun, wenn und weil der Patient es will? Auch das ist zunächst einfach zu verstehen. Der Arzt darf zwar nichts gegen den Willen des Patienten tun, aber er muss nichts tun, nur weil es der Patient will. Er kann sich nämlich aus seiner Verpflichtung aus dem Dienstvertrag befreien, indem er den Vertrag kündigt. Und das kann er jederzeit, außer zur Unzeit, also nicht, wenn gerade „Not am Mann“ ist.

 

Ansonsten darf der Arzt fast alles, nur nicht töten! (Natürlich gibt es noch mehr Ausnahmen, die uns aber hier nicht zu interessieren brauchen). Der Arzt darf den Patienten auch dann nicht töten, wenn dieser es will, denn das wäre als Tötung auf Verlangen strafbar. Der Arzt darf also nichts tun, was den Tod seines Patienten schneller herbeiführt, als von der Natur oder von wem auch immer vorgesehen. Auch eine anderweitige Beteiligung am Tod des Patienten, zum Beispiel durch Beihilfe zum Selbstmord ist für den Arzt nicht unproblematisch.

 

Was ist dann aber im Bereich der Sterbehilfe? Wie kann ein Arzt hier helfen? Da bedient man sich meistens der Unterscheidung von aktiver und passiver Sterbehilfe, die aber nicht hilfreich ist, weil aktives und passives Verhalten in der juristischen Betrachtung andere Ergebnisse liefern können, als man denkt. So ist das Abschalten eines Beatmungsgeräts juristisch eher als Beendigung der Weiterbeatmung und damit als Nichtstun anzusehen, denn als aktives Handeln durch Betätigung eines Schalters. Hilfreicher ist vielleicht folgende Unterscheidung: Hilfe beim Sterben ist möglich, Hilfe zu Sterben verboten. Die erlaubte Sterbehilfe kann also nur in der Sterbephase geleistet werden, wenn und weil der Patient im Sterben liegt. Jedes Interesse an der Beschleunigung des Todeseintritts, also einer Lebensverkürzung ist jedoch problematisch. Es kann im Bereich strafloser Sterbehilfe immer nur um Leidenslinderung gehen. Deshalb ist auch die sogenannte indirekte Sterbehilfe erlaubt. Der Begriff meint die sehr hohe Gabe von Schmerzmitteln mit möglichen (tödlichen) Nebenwirkungen. Die Nebenwirkungen sind natürlich nicht gewollt, werden aber in Kauf genommen. Das ist ziemlich unproblematisch. Wir alle kennen die Risiken und Nebenwirkungen von Medikamenten, jede Operation birgt Risiken, aber es geht eben „nur“ um Risiken und nicht um tödliche Gewissheit.

 

Seit einigen Jahren wird die Sedierung am Lebensende diskutiert. Zur Verhinderung eines qualvollen Sterbens (z.B. durch Ersticken) kann der Patient den Arzt bitten, ihm das Bewusstsein zu nehmen. Will der Patient aber zusätzlich keine künstliche Beatmung oder Ernährung oder sonstige Begleittherapie und wird dies sicher zum Tode führen, so ist die Sedierung strafbar. Wo ist aber der Unterschied zur sogenannten indirekten Sterbehilfe? Bei dieser sind tödliche Nebenwirkungen möglich, bei der Sedierung mit Einstellung der Versorgung ist der Todeseintritt die sichere Folge. Der dogmatische Unterschied zwischen der sicheren Todesfolge und der möglichen tödlichen Nebenwirkung ist, dass bei letzterer ein „sozialadäquates Risiko“ eingegangen werden darf.

 

Das Ergebnis unserer Betrachtungen ist also relativ einfach: Maßgeblich ist immer der Wille des Patienten, der alles wünschen darf, nur keine Lebensverkürzung. Er muss es aber nicht hinnehmen, dass man ihn am Leben halten will. Der Arzt darf sich dem natürlichen Krankheitsverlauf also nicht widersetzen, wenn der Patient das nicht will.